2 · D.C.D.-Diagnose
Selbst Kalliope stand wie angewurzelt da, ihre hübschen Augen waren weit aufgerissen; überrascht von der unerwartet nüchternen Geschwindigkeit des eben noch so friedlich Schlafenden.
Neko erkannte die Stimme wieder und bereute sofort die Entscheidung, ihren derzeit noch wahren Namen ausgesprochen zu haben. – Ein gequältes Schlucken.
Kiro, der das klickende Geräusch korrekt einschätzte, löste bedächtig langsam seine Hände von Neko und erhob sie, wie in Zeitlupe, über seinen Kopf. Sein Herz schien seinen Händen zu folgen und schlug ihm jetzt bis zum Hals.
Seine Vorstellung wurde brennende Realität, als er aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie sich unter seinem Arm langsam der überlange Lauf eines 44er-Magnum-Revolvers in die schwarzen, langen Haare seiner kleinen Gefährtin schob. Sein Körper generierte eine ungewohnte Mischung aus nackter Angst, dunkelroter Wut, emporsteigendem, liebesgetränkten Kampfeswillen und dem Geschmack von bitterer Unterlegenheit.
Als die eiskalte Mündung, die jetzt unsanft an Nekos Hinterkopf stieß, sie zu einem unfreiwilligen Nicken zwang, mischte sich in Kiros Emotions-Cocktail noch eine unbekannte Zutat: Eine dumpfe, dunkle Leere, die sich wie ein weißes, jungfräuliches Blatt Papier anfühlte, dessen Bestimmung es war, von ihm gefüllt zu werden.
Doch diese Leere wurde vorerst wieder durch die rauen Worte hinter ihm gefüllt.
»Du traust dich ernsthaft hier her? Nach dem, was du mir angetan hast? Du wagst es, mir unter die Augen zu treten, obwohl du weißt, was ich dir geschworen habe, du falsche Schlange? Du bist schuld an ihrem Tod!
An meinem Elend! Nicht nur MIR hast du alles genommen, du dreckige Verräterin! – Wie lange habe ich auf diesen beschissenen Moment gewartet ...«
Das Flammenkind antwortete nicht, senkte nur den Kopf und schloss die Augen.
Der Mann im dunkelweißen Mantel steigerte sich rapide in einen gefährlichen Zorn. Der zitternde Finger am Abzug seines stählernen Richtspruchs trieb die ernsthafte Situation auf ihren Scheideweg zu.
»Bitte nimm die Waffe runter«, forderte Kali kleinlaut und ungehört.
Kiro konnte sich nicht rühren. Sein Verstand blitze immer wieder zwischen zwei Gedanken hin und her: »Schlag ihm einfach die Waffe aus der Hand! Verdammt, trau dich! Feigling!« und »Bleib ruhig. Übernimm die Kontrolle. Fülle dieses unbeschriebene Blatt. Schlichte! – Das Papier gehört dir.«.
»Höre mir bitte zu ...«, kam es ihm noch zögerlich leise über die staubtrockenen Lippen. »Hör mir zu!« Jetzt hatte Kiros Tonfall seinem Willen gehorcht. »Tu ihr nichts! Wen auch immer du hier denkst, vor dir zu haben, sie ist es nicht. Sieh nochmal genau hin! Los!« Kiro hatte nicht den blassesten Schimmer, woher diese selbstbewussten Worte da aus ihm kamen.
»Willst du mich verarschen, Bengel?«, kam die irritierte Rückfrage. »Wer zum Tartaros bist du denn überhaupt? Netter Versuch, Kleiner. Aber ich könnte niemals ihre Präsenz vergessen, als sie mir meine Liebste Liz nahm! Und diese Augen ...«
»Du hast ihre Augen aber doch gar nicht gesehen. Vergewissere dich lieber, bevor du einen unwiderruflichen Fehler machst. Mein Name ist ...« Jetzt kam Kiro doch ins Stocken. – Wer war er? Wem sollte er Glauben schenken? Seinen Eltern, die ihm seinen Namen gegeben hatten? Seinem Bauchgefühl, das ihm erst seit zwei Tagen wieder zuverlässig diente? Neko? Seinem älteren Spiegelbild? Oder dem Verfasser dieses Briefes? Kiro oder nicht mehr Kiro? Somniator, Träumer, Schlichter? War er überhaupt dieser Schlichter? Hatten die verbrannten Zeilen Recht, dann war er jetzt einfach nur – »... Azur. Kein Name. Ich bin Azur!« Als sich diese drei Worte aus seiner Kehle befreiten, merkte er die aufsteigenden heißen Tränen, die von innen an seine klaren Augen pochten. Er spürte deutlich ihre Ankunft, wusste aber, dass sie nicht vorhatten ihm davonzulaufen. Sie wollten ihm nur das hellblaue Gefühl überreichen, dass er richtig lag; dass er sich richtig fühlte.
»Erzähl keinen Scheiß.« Der Angreifer klang eine Spur leiser als zuvor ..., der Finger hörte auf zu zittern ..., auch das hektische Zucken seines linken Augenlids war ein kaum zu bemerkendes Zeichen dafür, dass er durch die Worte doch verunsichert wurde. »Geh weg von ihr!«, befahl er Kiro, trat ihm aber sofort in den Hintern, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Dieser landete auf allen Vieren auf dem zusammengerollten Teppich. »Jetzt zu dir, kleine Mörderin. Umdrehen! Aber gaaanz langsam, sonst knallts!«
Neko, die immer noch mit geschlossenen Augen und dem Kinn auf der Brust auf das vermeintlich Unausweichliche wartete, gehorchte.
Sie drehte sich langsam zu ihrem potenziellen Henker um, bis sie den kalten Stahl des schweren Revolvers an ihrer heißen Stirn fühlen konnte. Sie konzentrierte sich dabei auf etwas, das sie in ihrem Kopf hörte, als ihr Beschützer anfing zu sprechen. Es hatte sich nach Kiro angefühlt.
»Jetzt schau mich an! – Schau mir in die Augen, Kleines!«
Die nostalgische Anspielung in seinem Satz rief allerdings nur in ihm selbst eine sarkastisch schmunzelnde Reaktion hervor. Kalliope war immer noch starr vor Angst, was gleich passieren könnte. Kiro machte es eher wütend. Und Neko hatte ein ernsthaftes Problem. Sie hob vorsichtig den Kopf. Dann öffnete sie wie gewünscht die Augen.
Als sie ihrem Gegenüber in die seinen sah, konnte sich eines nicht widerspiegeln: ihr sonst so funkentänzelnder, feurig oranger Blick. »Kiro hat ihn versteckt!«, flüsterte es hinter ihrem langen schwarzen Pony.
Der verdutzte Bob Marley-Verschnitt sah zwar in bernsteinfarbene Augen, doch nicht in das höllische Lodern, das er erwartete. Glänzend waren sie, aber ohne Spuren von energetischem Staub darin.
»AMOR! Wirst du wohl das Schießeisen senken! Geziemt sich das, so unsere Gäste zu begrüßen?« Chronos hatte sich währenddessen wackelig über das Parkett zu der angespannten kleinen Gruppe vorgearbeitet. Er legte eine Hand auf Nekos Scheitel, mit der anderen senkte er Amors Waffe und übernahm somit souverän die Kontrolle über die Situation. »So, ihr jungen Hüpfer. Jetzt wo wir alle wieder Freunde sind, hört alles brav wieder auf mein Kommando! Amor, du belädst die Arc zu Ende! Kalliope, mein Hase, du machst unseren Besuchern erstmal einen heißen Tee. Für mich gleich auch noch einen, gegen diese ganze Aufregung hier. Halt warte, die Kleine bekommt eine heiße Schokolade, wenn ich mich richtig erinnere. Mit ordentlich Zucker, und Schlagrahm obenauf. Und Miss Philia – was sollte eigentlich der Serva-Quatsch? – kommt mit mir. Deinen jungen Freund da darfst du ruhig mitnehmen. Beeilt euch ein wenig, ich habe keine Zeit. Ach, und Kali, mein Hase, machst du bitte Miss Philia eine heiße Schokolade? Mit viel Zucker und Schlagrahm obenauf, wenn ich mich richtig erinnere. Und Amor soll die Arc zu Ende beladen. Pass auf, dass er das anständig macht!«
»Ist das normal?«, flüsterte Kiro hinter vorgehaltener Hand zu Kalliope.
»Das kommt mit der Zeit. So wie sie für ihn gleichzeitig vor und rückwärts läuft, färbt das auch auf seine Gedanken ab, manchmal«, zwinkerte die blonde Schönheit zurück, bevor sie den sprachlosen Amor am Hemdkragen packte und ihn beiläufig mit sich in den Seitenflügel schleifte.
»Seltsamer alter Kerl ...«, murmelte Kiro vor sich hin und folgte neben Neko, mit einigen gebührenden Schritten Abstand, dem bärtigen, alten Mann.
»Das habe ich wohl vernommen ... Spotte du nur, Jungchen. Aber bedenke: Jeder Alte war mal Jung, aber nicht jeder Junge wird mal alt«, mahnte er in hämischem Ton. »Legt mal einen Schritt zu, meine Zeit ist mir kostbar«, trieb er sie nochmals zur Eile an, obwohl er selbst so langsam dahinschlurfte, dass Kiro schon die Befürchtung hatte, dass der alte Zausel bald anfangen würde, sich wie seine Gedanken rückwärts zu bewegen.
An seinem Arbeitstisch zurück, ließ sich Chronos wieder auf seinen durchgesessenen, weinroten Chefsessel sacken. »Setzt euch doch bitte.« Er deutete auf die zwei improvisierten Klappstühle, die er in der Zwischenzeit organisiert hatte. »Gut. Ich entschuldige mich für die kleine Unannehmlichkeit gerade. – Es freut mich, dass meine alten Augen dich noch einmal wiedersehen durften, Miss Philia. Es ist lange her, nicht wahr?«
»Ja, ich denk schon. Kann mich nur nich erinnern, wann ...«
»Das muss kurz vor der letzten Neuschöpfung hier gewesen sein. Am Ende des Aurelia-Konflikts. So grob: am Freitag, den 13. Dezember 4.117 vor Christus, um 22:18 Uhr und 13 Sekunden –
nach eurer Zeitrechnung – Plusminus ein Jahr.«
Kiro klappte erstaunt die Kinnlade runter.
»Und du, junger Mann, bist ganze sieben Sekunden zu früh erschienen. Ich war noch nicht darauf vorbereitet. Nur logisch, dass ich euch diese Zeitspanne von eurer Audienzzeit abziehen muss.«
Jetzt kam Kiro sich vor, als säße er bei seinem strengen Mathelehrer, der gleich pingelig die Fehlzeit ins Klassenbuch eintrug.
»Um ein Haar hättest du mit deiner sagenhaften Unpünktlichkeit meine Enkelin ins Nirvana befördert. Auch die Amor-Situation hättest du vermeiden können ... Nun gut. Wie dem auch sei ... Was kann ich für euch tun?« Er musterte die zwei abwechselnd durch die runden Brillengläser.
Neko kam Kiro einen Funkenschlag zuvor. »Ich will wissen, was mit mir los is! Warum, der da, mein Sonderauftrag sein soll! Warum ich sichtbar bin! Warum ich meine Kraft mal einsetzen kann und mal nich! Warum sind die Exsecutoren der Dra'ák hinter mir her? Ich versteh das alles nich! Ich ... ich ...«
»Immer langsam mit den jungen Pferden, meine Gute«, bremste Chronos sie. »Würde der Herr Schreiber bitte mal in Kurzform, und chronologisch, die Ereignisse schildern? Wer Antworten sucht, muss zuerst die richtigen Fragen finden!«
Dann erzählte Kiro, in gewünschter Form, den Hergang und die Vorkommnisse der letzten Tage.
Ihr Kennenlernen, die Horrorbegegnung in den alten Archiven und auch seine eigenartige Postzustellung. Neko fügte hier und da, ungeduldig zappelnd, noch die ein oder andere Ergänzung hinzu, die Kiro aus Unverständnis schon überspringen wollte.
Während der Erzählung blickte Chronos nur kopfnickend auf seine dunkelgrüne Schreibunterlage.
Als sie ihm soweit alles geschildert hatten, fokussierte sein Blick Neko. »Tic-Tac?« Dann zu Kiro: »Tic-Tac?« Den Blick zwischen beiden hin und her wechselnd: »Tic-Tac? Tic-Tac? Tic-Tacs?«
Ohne den Blick vom weißen Rauschebart zu nehmen, beugte sich Neko leicht zu Kiro herüber. »Ich glaub, wir haben ihn kaputt gemacht ... Haben wir ihn jetz überfordert? Meinst du, wir müssen ihm jetz so auf den Hinterkopf hauen?«
Bevor Kiro mit ähnlichen Gedanken antworten konnte, änderte sich die Frage des alten Mannes etwas ab. »Wollt ihr eins? Hilft beim Denken. Und vor allem beim Verstehen.« Dabei stupste er mit dem Blick immer wieder gedanklich gegen die kleine Plastikbox, die Kalliope ihm dagelassen hatte. »Nehmt euch doch ein–zwei. Nicht so schüchtern«, fügte er dann noch mit amüsiert zusammengekniffenen Augenlidern hinzu.
Kiro stieg von seinem sinnbildlichen Schlauch und musste über seine eigene Begriffsstutzigkeit lachen. Neko verstand es erst, als er ihr die Schachtel Tic-Tacs hinhielt und ihr ein paar davon in die offene Hand schüttete. »Und ich dachte schon ...«, verdrehte er die Augen.
»Bevor ich euch meine abschließende Erklärung zu eurer misslichen Lage geben kann, würde ich gerne noch einige Analysen durchführen. Danach kann ich euch eine abschließende Erklärung eurer misslichen Lage geben«, legte er fest und erhob sich keuchend wieder aus dem Chefsessel. Er wanderte zum Kleiderständer in der Ecke seines Büros und streifte sich ungelenk einen weißen Kittel über.
– Warum auf dessen goldenem Namensschildchen allerdings „Prof. Dr. mult. temp. G. Chronos" stand, war Kiro ein Rätsel. »G-Punkt ... hihihi ... Aber hat ein „Gott" wirklich einen Vornamen?«, drängelte sich Kiros Verstand kurz kindisch grinsend in den Vordergrund. –
»So, meine Liebe. Du als Erste. Hop-hop hinauf!« Der Herr Professor klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Schreibtisch. »Dann wollen wir doch mal sehen, was mit unserer kleinen Patientin nicht stimmt.«
Neko hüpfte vom unbequemen Campingstuhl auf den Tisch.
»Einmal den Mund auf und Aaaaa sagen!«
Sie saß beinebaumelnd da und tat, wie ihr geheißen. Kiro kam sich wie beim Onkel Doktor vor, nur dass er lediglich als Beistand dabeisaß. Fest rechnete er damit, dass Chronos gleich noch das Stethoskop aus der Kitteltasche zog und die Untersuchung mit: ›... und jetzt bitte einmal husten‹ fortführte.
– So daneben sollte er gar nicht liegen, wie sich herausstellte. Nur dass es eben kein einfaches Stethoskop war. –
»Aha, sehr interessant ... mhm ... so, jetzt bitte nicht erschrecken, es wird gleich etwas kalt«, warnte er sie vor, während er eine der Schreibtischschubladen öffnete und ein ziemlich futuristisches Objekt daraus hervorholte. »Sieht fast aus wie so ein Barcode-Lesegerät«, war die Auffassung des Beobachters. Auch der rote Abtast-Laser, der jetzt dauerpiepend Nekos Körper auf und ab streichelte, verstärkte dieses Gleichnis. Um zu erkennen, dass das jetzt ertönende, quäkende Summsignal und die auf dem Display aufleuchtenden roten Ausrufezeichen eher eine Fehlermeldung und keine guten Zeichen waren, dazu musste Kiro kein Doktor sein.
»Is was, Doc?«, schoss er los. »Ich meine, stimmt irgendwas nicht?«
Chronos wies seine Frage jedoch nur mit einer abschätzigen Handbewegung ab und drückte immer wieder dieselbe kleine Taste des „Dust-Core-Detector / MK 3", wie der Schriftzug an dessen Seite verriet. »Herrjemine! Das ist aber ungewöhnlich. Verzwickelt, aber ja ..., nicht ausgeschlossen ... Aha-aha ...«, stellte er im Selbstgespräch fest. »Jetzt du, junger Mann. Hop-hop!«
Kiro tauschte etwas widerwillig den Platz mit Neko. Chronos wiederholte die Prozedur – mit verblüffend ähnlicher Wortwahl. Nur dass es bei ihm in orange piepte. »Puh! Orange. Orange muss besser sein als rot. Aber grün wäre mir noch lieber gewesen. Der Laser ist ja wirklich seltsam kalt ...«, waren seine wenig beruhigenden Gedanken.
»Meine Lieben? – Meine Diagnose steht fest:
Ihr leidet beide an verschiedenen, aber gleichermaßen gravierend letalen Kern-Problematiken.
Miss Philias ist: Nullus Nucleus.
Herrn Azurs: das seltene Semi-Nucleus-Syndrom.«
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